Das Superkompensationsmodell
 

Das Superkompensationsmodell

Wie das Ursprungsmodell ohne wissenschaftliche Evidenz auf das Training übertragen wurde.

Zur Erklärung von Trainingswirkungen, Anpassungszuständen und Leistungsentwicklungen wird in der Ausbildung von Übungsleitern und Trainern meist auf das Modell der Superkompensation verwiesen. Die zugrundeliegende Theorie des ursprünglichen Modells wird dabei vielfach ausgeblendet oder ist nicht bekannt. Ohne wissenschaftliche Evidenz wird das Modell von vielen Dozenten und Autoren auf sämtliche Bereiche des sportlichen Trainings übertragen. Durch diese unzulässigen Modifikationen gewinnen Sporttreibende und Trainer falsche Vorstellungen zur Trainingssteuerung, den Gesetzmäßigkeiten der Trainingsanpassung und dem Timing von Belastungs- und Erholungsphasen. Dieser Beitrag möchte Limitationen und Fehlinterpretationen des Modells der Superkompensation herausarbeiten und zu einem besseren Trainingsverständnis beitragen.

Superkompensation des Muskelglykogens

Das Ursprungsmodell der Superkompensation basiert auf tierexperimentellen Untersuchungen des russischen Biochemikers Nikolaj Nikolaevič Jakowlew (1892-1974). Seine Ende der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts aus Tierversuchen gewonnenen Erkenntnisse zum Zeitverlauf der Glykogenveränderung in der Leber während und nach Trainingsbelastungen (Jakowlew, 1977) wurden später von Bergström et al. (1967) in Humanversuchen der Muskulatur bestätigt. Danach nimmt der Glykogenvorrat während intensiver Trainingsbelastungen in der Arbeitsmuskulatur ab. In der anschließenden Regenerationsphase kommt es zur Wiederauffüllung der muskulären Glykogenspeicher. Dabei kann es zu einer Füllung der Speicherdepots über das Ausgangsniveau kommen, was als Superkompensation oder Überkompensation bezeichnet wird (Abb. 1).

Superkompensation Abb. 1: Modifizierte Darstellung des Ursprungsmodells zur Glykogensuperkompensation nach Jakowlew (aus Hottenrott & Seidel, 2017, S. 45).

Das Superkompensationsmodell beschreibt folglich einen Zeitverlauf der veränderten Glykogenkonzentration vor, während und nach dem Training. Der dahintersteckende Mechanismus ist die belastungsbedingte Abnahme des Muskel- und Leberglykogens und die dadurch aktivierte erhöhte Glykolyse und/oder oxidative Phosphorilierung. Die in der darauffolgenden Regenerationsphase mit der Nahrung aufgenommene Glukose stimuliert die Insulinausschüttung und die Glykogensynthese (Aktivitätszunahme der Glykogensynthase), mit dem Effekt der Zunahme der Glykogenkonzentration in den beanspruchten Muskeln.

Außer der Beschreibung des Glykogens in Tier- und Humanversuchen, gibt es derzeit keine zuverlässigen Daten, die beispielweise für das Muskelprotein, die Mitochondrien oder die Kapillaren sowie weitere Funktionsgrößen einen vergleichbaren sinusförmigen Verlauf mit anschließender Superkompensation während und nach Trainingsbelastungen belegen.

Verallgemeinerungen des Superkompensationsmodells

Aus dem Zeitverlauf der Energiereserven während und nach dem Training entsprechend den Erkenntnissen von Jakowlew wurde sehr früh eine Gesetzmäßigkeit der Anpassung des Organismus an Trainingsreize abgeleitet wie u.a. vom Trainingswissenschaftler Dietrich Harre (1970). Dort heißt es: Der Anpassungsprozeß ist das Ergebnis eines richtigen Wechsels von Belastung und Erholung. Die Belastung in einer Trainingseinheit löst zunächst durch den Verbrauch funktioneller und energetischer Potentiale einen Ermüdungsprozeß aus, der die Funktionsfähigkeit zeitweilig herabsetzt. Das ist der entscheidende Reiz für Anpassungsvorgänge, die sich vornehmlich in der Erholungsphase vollziehen. Unter biochemischem Aspekt werden dabei nicht nur die verbrauchten Energiequellen erneuert (Wiederherstellung), sondern es erfolgt eine Wiederherstellung über das Ausgangsniveau hinaus (Überkompensation). Die Überkompensation ist die Grundlage für die Funktions- und Leistungssteigerung “ (Harre, 1970). Da bei der gewählten Darstellung in Abbildung 2 die x- und y-Achse nicht beschriftet sind, bleibt ohne Texterläuterungen unklar, was im Modell beschrieben wird.

Schematische Darstellung Abb. 2: Schematische Darstellung des Superkompensationsmodells (Harre, 1970)

Auch in den folgenden Jahren wird das Ursprungsmodell der Superkompensation von vielen Wissenschaftlern ohne empirische Datengrundlage weiter verändert, erweitert und zur Erklärung von trainingsbedingten Leistungsfortschritten herangezogen. So werden die y-Achse als das „Niveau der sportlichen Leistungsfähigkeit“ und vermeintlich optimale Phasen zum Setzten von Trainingsreizen als Grundlage für eine kontinuierliche Leistungsentwicklung definiert. Im Lehrbuch „Optimales Training“ von Jürgen Weineck (2010, S. 51) wird dies so beschrieben: „Erfolgen in oder nach der Superkompensationsphase keine weiteren Trainingsbelastungen mehr, dann wird allmählich wieder das Ausgangsniveau erreicht. Werden weitere Trainingsreize in optimaler Folge gesetzt, dann steigt die sportliche Leistungsfähigkeit kontinuierlich an“ (s. Abb. 3). Erfolgen die Trainingsbelastungen zu schnell aufeinander, dann kommt es zur Abnahme der sportlichen Leistungsfähigkeit (s. Abb. 4).

Verbesserung der sportlichen Leistungsfähigkeit
Abb. 3: Verbesserung der sportlichen Leistungsfähigkeit durch optimal gesetzte Trainingsreize (Weineck, 2010, S.53)

Abnahme der sportlichen Leistungsfähigkeit

Abb. 4: Abnahme der sportlichen Leistungsfähigkeit durch zu schnell aufeinanderfolgende Belastungen (Weineck, 2010, S.53)

Warum der nächste Trainingsreiz möglichst am höchsten Punkt der Superkompensationsphase erfolgen sollte und warum die Leistungsfähigkeit stagniere oder abnehme, wenn das nächste Training zu früh oder zu spät angesetzt wird, darf nicht als allgemeingültige Gesetzmäßigkeit der Adaptation bzw. Deadaptation verstanden werden. Zu komplex sind Trainingsprozesse, um sie auf diese Einfachheit zu reduzieren. Übertragungen des Modells auf eine optimale Trainingsreizsetzung sollten daher vermieden werden.

Kritik am Superkompensationsmodell

Das Superkompensationsmodell hat zwar einige Kritiker gefunden, dennoch wird am Modell nach über 40 Jahren festgehalten und es wird in der Trainer- und Übungsleiterausbildung zur Erklärung von Trainingsanpassungen meist unkritisch verwendet. Das ursprüngliche Jakowlew-Modell beschreibt nur Zeitverläufe des Leber- und Muskelglykogens und ist nicht verlässlich mit Daten belegt, welche die komplexen Mechanismen der Trainingsanpassung erklären können. Trainingsreize lösen Umstellungsreaktionen in mehreren Funktionssystemen aus. In der anschließenden Wiederherstellungsphase kommt es zu unterschiedlichen Regenerationsverläufen (Heterochronizität), die Einfluss auf die weitere Trainingsgestaltung nehmen. Dies findet im Superkompensationsmodell mit einer einseitigen Sichtweise auf den Energiestatus der Muskulatur keine Berücksichtigung.

Inzwischen ist experimentell belegt, dass es auf molekularer Ebene Signalproteine gibt, die Belastungssignale erfassen, diese Signale weiterleiten, verstärken und integrieren sowie die bekannten Anpassungen an die Belastung in den verschiedenen Organen regulieren (Wackerhage & Gehlert, 2017). Für die Trainingspraxis ist bedeutend, dass ein herbeigeführter Glykogenmangel durch Ausdauertraining zum Anstieg der Adenosinmonophosphatkinase (AMPK) führt, welche entscheidend die Anpassungen an die Ausdauerbelastung induziert. Molekulare Studien zeigen, dass AMPK bei niedrigem Muskelglykogen (Energiemangel) aktiver ist als bei höherer Glyogenkonzentration (Wojtaszewski et al., 2002). Daher ist ein niedriger Glykogenspiegel nicht kontraproduktiv für Ausdaueranpassungen wie im Superkompensationsmodell dargelegt wird (s. Abb. 4). Für einen Wettkampf muss jedoch das Muskelglykogen voll aufgefüllt sein (s. Abb. 5). Ein Training nach dem Superkompensationsmodell fördert demzufolge nicht effektiv die Ausdaueranpassung. Um einen starken Effekt auf die Mitochondrienbiogenese auszuüben, sollten folglich Ausdauerreize möglichst bei niedriger Energieverfügbarkeit, d.h. entleerten Glykogenspeichern erfolgen und nicht im Zustand der Glykogensuperkompensation oder wie im Modell zur Verbesserung der sportlichen Leistungsfähigkeit (s. Abb. 3) dargelegt wird. In dieser grafischen Darstellung wird der Eindruck einer exakten Trainingssteuerung erweckt und eine lineare, einfache Beziehung von Training, Regeneration und Leistungsentwicklung suggeriert. Leistungssteigerungen nach jeder Trainingseinheit sind unrealistisch. Die verschiedenen Faktoren, die die körperliche Anpassung beeinflussen, werden nicht berücksichtigt, ebenso wie die Tatsache, dass derselbe äußere Trainingsreiz intra- und interindividuell unterschiedliche Beanspruchungen zur Folge haben kann. Unterschiede im Trainingszustand, in den Leistungsvoraussetzungen, der Belastbarkeit und Trainierbarkeit sowie den genetischen Dispositionen werden im Modell nicht beachtet. Grundsätzlich ist deshalb das Modell der Superkompensation ungeeignet für differenzierte Planungen zur sportlichen Leistungsentwicklung. Es vereinfacht zu stark und impliziert falsche Vorstellungen zur Trainingsadaptation.

In der Aus- und Weiterbildung der Trainer- und Übungsleiter sollte das Superkompensationsmodell kritisch diskutiert werden, Limitationen und Fehlinterpretationen herausgestellt werden. Die Einfachheit des Modells sowie die scheinbare Exaktheit und die klare Gewichtung bei der Planung des sportlichen Trainings entsprechen nicht der Realität.

Anwendung der Glykogensuperkompensation für Ausdauerwettkämpfe

Unabhängig der Kritik zu den Vorstellungen der Superkompensation für den Trainingsaufbau, kann die Erhöhung der Glykogenspeicher zur gezielten Ausprägung von Ausdauerwettkampfleistungen oder zur Erhöhung der Trainingsintensität bei HIIT-Programmen genutzt werden. Damit für einen Ausdauerwettkampf eine größtmögliche Energiemenge verfügbar ist, sollte die Wettkampfwoche in zwei Abschnitte geteilt werden. Im ersten Abschnitt (z. B. Montag bis Mittwoch) sollte bei Fortsetzung des Trainings eine low-carb Ernährung erfolgen, um die Glykogenspeicher in der Muskulatur stark zu entleeren.
Im zweiten Wochenteil (z. B. Donnerstag bis Samstag) werden die Glykogenspeicher bei leichtem Training und erhöhter Kohlenhydrataufnahme (>60 % der Gesamtenergie) maximal gefüllt, um eine eine Superkompensation der Glykogenspeicher zu erzielen. Der Vorteil der Glykogensuperkompensation im Wettkampf besteht darin, dass der Sportler mehr Energie für den Kohlenhydratstoffwechsel verfügbar hat, was sich positiv auf die Wettkampfleistung auswirken kann.

Gestaltung einer Wettkampfwoche

Abb, 5: Gestaltung einer Wettkampfwoche zur Ausprägung der Superkompensation (GA: Grundlagenausdauertraining, REG: Regenerationstraining, WK: Wettkampf)

Literatur
  1. Bergström, J., Hermansen, L., Hultman, E. & Saltin, B. (1967). Diet, muscle glycogen and physical performance. Acta Physiol Scand, 71 (2), 140-150.
  2. Harre, D. (1970). Trainingslehre. Einführung in die allgemeine Trainingsmethodik. Berlin: Sportverlag.
  3. Hottenrott, K., & Seidel, I. (2017) (Hrsg). Handbuch Trainingswissenschaft-Trainingslehre. Hofmann.
  4. Jakowlew, N. N. (1977). Sportbiochemie. Leipzig: Johann Ambrosius Barth
  5. Wackerhage, H. & Gehlert, S. (2017) Signaltransduktionsmodell. In Hottenrott, K., & Seidel, I. (Hrsg). Handbuch Trainingswissenschaft-Trainingslehre. Hofmann. S. 49-54.
  6. Weineck, J. (2010). Optimales Training (16., durchgesehene Aufl.). Balingen: Spital Verlag.
  7. Wojtaszewski, J. F., Jorgensen, S. B., Hellsten, Y., Hardie, D. G. & Richte, E. A. (2002). Glycogen-dependent effects of 5-aminoimidazole-4-carboxamide (AICA)-riboside on AMP-activated protein kinase and glycogen synthase activities in rat skeletal muscle. Diabetes 51, 284-292.

Autor: Univ.-Prof. Dr. Kuno Hottenrott (Deutsche Berufsakademie Sport und Gesundheit)